Blickt man in der Kostümgeschichte ein wenig umher und zurück, findet man häufig einen simplen Typ Bekleidung: dem Rechteck mit einem Loch für den Kopf. Möglicherweise gibt es separate Ärmel oder auch nicht. Für diese Art des Kleidungsstücks finden sich unzählige Beispiele für diese Art Hemd und/oder Kleid in der ganzen Welt: In Russland genauso wie in Afrika oder Indien. Vor allem in Trachten und hier besonders dem Herrenhemd oder der Bluse haben verschiedenste Modelle auch bei uns überlebt. Dasselbe Schittmuster auf der ganzen Welt kann kein Zufall sein. Im Gegenteil es ist clever und sparsam. Außerdem sind diese Kleidungsstücke praktisch und bequem, sie schränken die Bewegung nicht ein. Fast allen Herrenhemden liegt das Hemd der Hemden, das „Bauernhemd“, zugrunde. (Wie man ein solches näht könnt ihr hier sehen).
Aber nicht die Bequemlichkeit war entscheidend für den Erfolg der gerade geschnittenen Kleidung, es war pure Notwendigkeit. In früheren Zeiten, in denen es Wochen dauerte ein Stück Stoff zu weben, war Kleidung Luxus. Nur die Allerreichsten besaßen mehr als das Notwendigste zum Anziehen. Es war wichtig das Material bestmöglich zu verwenden. Der japanische Kimono ist ein wunderbares Beispiel: Der Auflageplan ist so perfekt ausgetüftelt, dass nicht ein Stückchen Stoff übrigbleibt. Ein anderer interessanter Gesichtspunkt ist die sehr gute Wieder- und Weiterverwendbarkeit des Stoffes derartig hergestellter Kleidungsstücke. Zudem lassen sie sich sehr leicht abändern und anpassen.
Die modernen Webmaschinen sind sehr schnell und wir können es uns leisten Stoff zu kaufen – die meisten jedenfalls. Trotzdem glaube ich, dass wir unsere Gewohnheiten überdenken sollten. Wir leiden eher am zuviel und leben in einer Art Geschwindigkeitsrausch. Wir sollten entschleunigen, langsamer werden, weniger verschwenden und viel, viel weniger wegschmeißen. Nähen mit geraden Schnitten ist eine Möglichkeit den Abfall beim Nähen zu verringern oder, im besten Fall, ganz zu vermeiden.
Dabei ist diese Art zu nähen sehr faszinierend. Ich habe keine Angst vor Armlöchern, Kurven oder Wiener Nähten, aber mir gefallen die unzähligen Möglichkeiten, die mir das Nähen mit geraden Teilen gibt. Ich beginne oft mit einem Rechteck und dem Loch für den Kopf. Dann hänge ich das Stoffstück über die Puppe, überlege und probiere, füge etwas hinzu oder nehme etwas weg … Es ist faszinierend dem Kleidungsstück beim wachsen und ändern zuzuschauen. Der zweite Grund, warum ich gerne so arbeite, ist: Ich habe viele Stoffe zuhause, große und kleine Stücke. Das heißt ich kaufe nie gezielt für einen Schnitt, das würde bei mir nicht funktionieren, weil ich meine Pläne garantiert dreimal ändere. Daher muss ich mich eben mit den Möglichkeiten, die ein bestimmtes Stoffstück zulässt abfinden und damit bestmöglich arbeiten. Wenn sonst nichts mehr geht, mit geraden Teilen (und eventuellem Stoffmix) lässt sich immer etwas herstellen! Das Bloggen ist eine gute Gelegenheit verschiedenes auszuprobieren und darüber zu diskutieren. In unserem Blog gab es schon einige Beispiele zu sehen: Muscheln und Steine, Waxprintjacke, Bluse für Künstlerinnen, Charlestonkleid.
Heute möchte ich zeigen, wie man einen sehr gemütlichen Mantel/Jacke ohne Schnitt nähen kann. Für längere Kleidungsstücke ist im allgemeinen der Hüftumfang + 4-8cm Spielraum der Ausgangspunkt. Bei einer Jacke oder einem Mantel braucht man einiges mehr, schließlich soll noch ein Pulli darunter passen (zumindest bei mir). Ich möchte jetzt nicht irgendwelche Maße zwingend festlegen, die Vorstellungen vom perfekten Mantel sind vermutlich sehr verschieden. Auf der Zeichnung sieht man die Maße der hier gezeigten Jacke. (Ich trage Konfektionsgröße 42.)
Die Länge und auch die Weite des Mantels ergaben sich aus dem vorhandenen Stoff. Es ist ein alter Stoff, den meine Mutter vermutlich für meine kleine Anna vernähen wollte. Dazu kam es nie. Wie alle begeisterten Näherinnen brachte auch meine Mutter nicht immer ihre Nähprojekte zur Ausführung. Anna ist jetzt erwachsen, meine Töchter wollten den Stoff nicht, also beschloss ich daraus einen Mantel zu nähen. Die Ärmel wurden etwas zu kurz, also erhielten sie einen Bundabschluß aus wattiertem Futter, das ist sehr praktisch, es verschmutzt nicht und schützt den Wollstoff. Aber eine tolle große Kapuze ging sich aus, ein wichtiger Bestandteil für Jacken. Es gibt hier einen in vielen Liedern besungenen Wind: Den böhmischen Wind, sehr kalt! Der Mantel hatte ursprünglich ein weißes Futter aus einem hübschen mit Schmetterlingen bedruckten Viskosestoff, dann tauschte ich es aus gegen ein dunkelblaues wattiertes Futter. Schließlich noch einmal gegen ein geometrisch gemustertes, wattiertes Futter, die Kapuze behielt das anfängliche Dunkelblaue (dieses ist sehr glatt und war mir für innen zu kalt). Es gibt sogar eingeschnittene Taschen, da habe ich mich fast selbst übertroffen.
Material: 1,50cm x 1,40cm Wollwalk, wattiertes Futter, Reißverschluss, Kordel
Buchempfehlungen:
- Wer einen Blick in die Kostümgeschichte riskieren möchte: „Kostümschnitte und Gewandformen“ von Max Tilke, Verlag Ernst Wasmuth, ISBN 3 8030 5024 3. Es war mein erstes richtig teures Buch (erstanden von meinem Taschengeld als Mädchen). Es ist sehr informativ und spannt den Bogen quer durch die Geschichte und die Welt.
- Für meine Taschen fand ich beste Unterstützung im Buch „Taschen an Kleidungsstücken perfekt genäht“ von Yoshiko Mizuno, Stiebner Verlag, ISBN-13: 978 3 8307 0938 1.
Und damit geht es heute zum letzten Me-Made-Mittwoch des Jahres.
Ich finde diese „ohne Rest“ Schema Schnitte sehr faszinierend. Irgendwo habe ich sowas noch für mittelalterliche Kleider liegen. Da werden dann Keile in Seiten und Ärmel eingesetzt, womit mehr Figur entsteht und trotzdem bleibt nichts übrig.
Deine Jacke hat durch die Stickerei noch ein wunderbares Extra bekommen.
Viele Grüße,
Malou
LikeLike
Ich bin auch über mittelalterkostüme dazu gekommen. Die Stickerei ist leider nicht von mir, aber momentan habe ich große Lust ( und auch eine Idee) selber etwas zu betsicken. Liebe Grüße Silvia
LikeLike
Die Fotos von der herbstlichen nebelstimmung sind absolut grandios! Ganz großes Kino! Tolle Jacke steht Dir ganz ganz prima. LG Kuestensocke
LikeLike
Danke, in die Foto bin ich auch verliebt. Liebe Grüße Silvia
LikeLike
Ich liebe es, bei Dir über die Hintergründe der Kleidungsstücke und des Nähens zu lesen. Und die beigefügten Zeichnungen sind eine gute Anregung – Danke. Aber jetzt zur Jacke: Wunderschön! Die Stickereikante und das hochwertige Material werten die schlichte Form ungemein auf. Und die Fotos sind ein Augenschmaus.
Liebe Grüße von Ina
LikeLike
Danke, ich wollte unbedingt in den tollen Nebelschwaden fotografieren, es ist so geheimnisvoll, leider konnte ich die ganz dicken Nebelfotos doch nicht verwenden, aber so ist es auch schön. Liebe Grüße Silvia
LikeLike
Wow!
Was für ein wunderschöner Mantel!
Vielen Dank, dass du so genau zeigst, wie du ihn entworfen hast.
Ich traue mir das (noch) nicht zu, aber durch Beiträge wie deinen erscheint es mir nicht mehr unmöglich.
Toll! Christina
LikeLike
Es geht wirklich darum Oberweite oder die breiteste Stelle der Hüfte zu berücksichtigen, alles andere fügt sich von selber. Die Ärmellänge (bei Langarm) ist manchmal ein Ratespiel, aber man könnte auch einen entsprechend breiten Sicherheitseinschlag einrechnen. Einfach mal probieren (vielleicht für ein Kostüm oder mit einen ungeliebten Stoff?). Liebe Grüße Silvia
LikeLike
Super spannend zu sehen, dass sich letztlich auch ein komplexeres Kleidungsstück wie ein Mantel aus einem Schemaschnitt entwickeln lässt. Toller Post! LG Manuela
LikeLike
Da gibt es für mich auch noch einiges zu entdecken. Außerdem lerne ich jedesmal eine Menge über den Aufbau von Kleidungsstücken und ihre Konstruktion. Liebe Grüße Silvia
LikeLike
Wunderschön, einTraumteil.
Liebe Grüße Vera
LikeLike
Trag ihn auch immerzu, den Mantel, liebe Grüße Silvia
LikeLike
Hallo, nach diesem simplen Schema hab ich mir in meiner Anfangszeit des Nähhandwerks eine Hippiebluse genäht, und zwar aus diesen klassischen Halstüchern mit Paisley-Mustern, die es früher in rot und blau gab. Herrliche Sommerkleidung und fetziger Look am Strand…schön, dass das einfache Gute bleibt…
LikeLike
Ganz deiner Meinung, liebe Grüße, silvia
LikeLike